Wenn du dich ein bisschen mit Suchmaschinen, großen Sprachmodellen oder digitalem Branding beschäftigst, stolperst du früher oder später über ein unbequeme Tatsache: Bias – also Verzerrung oder Voreingenommenheit – ist überall. Was oft wie ein rein technisches Problem aussieht, ist in Wahrheit vielschichtiger. Und je länger ich mich damit beschäftige, desto klarer wird mir, dass es keinen Sinn ergibt, von einer vollkommen neutralen Suche zu träumen. Die Frage ist vielmehr: Wie gehst du mit dieser Verzerrung um, damit dein Unternehmen sichtbar bleibt und nicht von den Signalen und Algorithmen anderer dominiert wird?
In den folgenden Gedanken möchte ich dich durch drei große Themenfelder führen: erstens, wie Bias in Such- und KI-Systemen funktioniert und warum das keine Ausnahme, sondern Regel ist. Zweitens, wie deine Marke zwangsläufig interpretiert wird – ob du das willst oder nicht. Und drittens, weshalb es klüger ist, Bias aktiv selbst zu steuern, anstatt ihn einfach passieren zu lassen.
Bias in der Auswahl – das Prinzip der „Selection Rate“
Stell dir vor, ein KI-System wie Bing Copilot oder Perplexity recherchiert zu einer Frage. Es zieht mehrere Quellen heran, aber nur einige davon tauchen am Ende wirklich in den Antworten auf. Daraus ergibt sich die Selection Rate – also wie oft eine Quelle im Vergleich zu anderen ausgewählt wird. Und genau hier beginnt das Problem: Manche Stimmen werden überproportional oft herangezogen, andere fast nie.
Was heißt das für dich? Ganz simpel: Wenn deine Inhalte selten ausgewählt werden, bleibst du unsichtbar in dieser neuen Art von Such-Ökosystem. Wenn sie häufig erscheinen, wirst du als autoritär und vertrauenswürdig wahrgenommen. Hohe Selection Rates verstärken sich mit der Zeit selbst, ähnlich wie im klassischen SEO hohe Rankings mehr Klicks erzeugen, die wiederum das Ranking stabilisieren.
Forscher haben dieses Phänomen sogar als Neural Howlround beschrieben – eine Art Echoeffekt im Modell, bei dem bestimmte Quellen so dominant werden, dass sie auch durch neue Daten kaum verdrängt werden können. Klingt technisch, aber letztlich ist es nur ein modernes Feedback-System. Sichtbarkeit erzeugt noch mehr Sichtbarkeit.
Die Konsequenz? Für dich heißt es, deine Inhalte so aufzubauen, dass sie überhaupt erst in den Auswahlpool der Systeme gelangen. Strukturiert, qualitativ stark und eindeutig mit deiner Marke verknüpft. Sonst trittst du in diesem Spielfeld gar nicht an.
Markenwahrnehmung: Warum Neutralität heute nicht mehr neutral wirkt
Bias ist nicht nur ein technisches Thema, sondern auch ein kulturelles. Eine Marke wird immer interpretiert, egal wie sehr sie versucht, „neutral“ aufzutreten. Schau dir bekannte Beispiele an: Nike nahm Colin Kaepernick in eine Kampagne auf – für die einen ein starkes Statement, für andere ein Grund zum Boykott. Oder Bud Light, das mit einem trans Influencer zusammenarbeitete und plötzlich im Zentrum einer politischen Debatte stand, obwohl sie vermutlich nur eine Marketingentscheidung getroffen hatten.
Selbst Disney wurde in politische Auseinandersetzungen hineingezogen, obwohl es primär um Geschäftsentscheidungen ging. Fazit: Du kannst dir nicht aussuchen, ob deine Marke interpretiert wird. Du kannst nur entscheiden, welche Signale du bewusst aussendest und wie du mit Reaktionen umgehst.
Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt: In einer polarisierten Welt besteht keine echte Neutralität mehr. Jeder Schritt wird als Position gelesen. Für dich als Kommunikator heißt das: Plane nicht nur Kampagnen, sondern immer auch die daraus entstehenden Interpretationen ein.
Directed Bias: Verzerrung mit Absicht
Es wäre falsch, Bias nur als Falle oder Risiko zu sehen. In Wahrheit nutzt du ihn längst strategisch. Wenn du eine Zielgruppe definierst (ICP-Targeting) oder deine Positionierung abstimmst, entscheidest du bewusst, wer dazugehört und wer nicht. Das ist nichts anderes als „gelenkter Bias“.
Das klingt provokant, macht aber vieles klarer: Deine Entscheidungen, welche Themen, welche Plattformen und welche Sprache du nutzt, sind nicht neutral. Sie erzeugen ganz bestimmte Wahrnehmungen. Wenn man das einmal akzeptiert hat, kann man sehr viel gezielter arbeiten. Bias wird dann nicht zum Risikofaktor, sondern zum Werkzeug.
Bias in klassischen Suchsystemen
Schon lange bevor es LLMs gab, wussten wir: Reihenfolgen in Suchergebnissen beeinflussen Menschen. Eine PLOS-Studie zeigte, dass allein die Platzierung von Resultaten Meinungen um bis zu 30% verschieben kann. Hinzu kommt der Effekt von Filterblasen, der Meinungen verstärkt und alternative Sichtweisen verdrängt.
Auch strukturelle Effekte wie die Bevorzugung frischer Inhalte, bevorzugter Domains (etwa länderspezifische Endungen wie .fr) oder großer Marken spielen eine Rolle. Kurz: Auch im klassischen SEO bist du längst einem System ausgesetzt, in dem strukturelle Biases deine Chancen auf Sichtbarkeit bestimmen.
Bias in LLM-Ausgaben
Spannender (und gefährlicher) wird es bei großen Sprachmodellen. Hier entstehen zusätzliche Schichten der Verzerrung:
– Trainingsdaten sind unausgewogen. Manche Stimmen sind überrepräsentiert, andere fehlen.
– Die Art der Fragestellung (Prompting) kann Antworten stark verändern.
– Sogar die Reihenfolge, in der Dokumente eingespeist werden, hat messbare Effekte.
Studien verschiedener Universitäten haben gezeigt, dass selbst nach Fairness-Korrekturen unterschwellige Muster im Modell bleiben. Das heißt: Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass KI-Systeme neutral über deine Marke sprechen. Wenn deine Inhalte fehlen oder falsch geframed sind, übernehmen diese Systeme Versionen von dir, die nicht von dir stammen.
Die Fäden zusammenziehen
Bias taucht also auf drei Ebenen auf: in der Selektion durch Systeme, in der Wahrnehmung deiner Marke durch die Öffentlichkeit und in deinen eigenen Medienentscheidungen. Das Wichtige ist, dass du dir klar machst, ob Bias gegen dich arbeitet – oder ob du ihn bewusst steuerst.
Meine Empfehlung:
– Erkenne, wo Bias sichtbar wird (SEO-Tests, Nutzerreaktionen, KI-Analysen).
– Sei ehrlich, wenn du Bias lenkst. Versteckte Verzerrungen werden irgendwann aufgedeckt und können deine Glaubwürdigkeit beschädigen.
– Nutze Bias als Mittel der Klarheit. Wenn du eine Zielgruppe ansprichst, stehe auch dazu, dass du dich auf diese Gruppe fokussierst.
– Gestalte dein „AI-Footprint“ bewusst: Wenn du nicht selbst Material lieferst, füllen andere (oder die Systeme) diese Lücke.
Ein beunruhigender Gedanke
Was, wenn Bias selbst zur Waffe wird? Stell dir vor, ein Konkurrent produziert genug Inhalte, die dich indirekt beschreiben – vielleicht nicht mit deinem Namen, aber klar erkennbar. Ein LLM verbindet die Muster und erzeugt eine Antwort, die deine Marke so zeigt, wie der Gegner es möchte. Schon heute wäre das technisch machbar. Und die Nutzer sehen dann vielleicht nicht deine Wahrheit, sondern eine verzerrte Abbildung.
Ob das eine reale Gefahr ist oder noch Spekulation – schwer zu sagen. Aber du solltest vorbereitet sein. Dein Gegengift ist es, proaktiv Inhalte in den Datenraum zu bringen, die deine Narrative setzen. Lückenlosigkeit ist dabei fast wichtiger als Perfektion.
Schlussgedanken
Bias ist nicht der Feind. Verborgenes Bias schon. Fehler entstehen dann, wenn du nicht weißt, welche Vorannahmen oder Mechanismen dein Bild verfälschen. Natürlich kannst du es nicht eliminieren. Aber du kannst es formen. Du bestimmst am Ende, ob dein Unternehmen passives Opfer oder aktiver Gestalter dieser Verzerrung wird.
Und vielleicht ist genau das die wichtigste Lektion: In einer Welt, in der Suchmaschinen und KI zu den wichtigsten Deutern von Realität geworden sind, ist es besser, dein eigenes Bias zu definieren, als zulassen, dass andere es an deiner Stelle tun.














