Wenn du dich an die wilde Frühzeit des Internets erinnerst, wirst du wissen, dass damals alles noch sehr roh wirkte. Begriffe wie Domain Authority, SEO oder User Experience spielten kaum eine Rolle. Man landete irgendwo, probierte Links aus und hoffte, dass sie funktionierten. Heute, fast drei Jahrzehnte später, stehst du an einem ähnlichen Wendepunkt – nur dass diesmal nicht mehr Websites der primäre Zugang sind, sondern Agenten. Diese intelligenten, oft KI-gesteuerten Systeme erledigen Aufgaben für dich, bevor du überhaupt ein Browserfenster öffnest. Und genau darin liegt die enorme Verschiebung, die deine Arbeit, dein Marketing und letztlich dein Verständnis vom offenen Web verändern wird.
Von der Webseite zum Agent
Heute ist es noch selbstverständlich, dass jede Firma eine Website hat. Sie dient als digitale Visitenkarte, Onlineshop, Kontaktpunkt, manchmal auch einfach als Türschild. Aber wenn du genauer hinschaust, wirst du sehen, dass dieser Status wackelt. Agentic Systeme – also Automatisierungen, die Aufgaben selbstständig ausführen – nehmen dir zunehmend die Navigation ab. Du sagst deinem Assistenten: „Buche mir einen Flug nach Berlin morgen um 10 Uhr.“ Und er macht es. Nicht, indem er dich erst zu Lufthansa.de oder Expedia schickt, sondern indem er direkt im Hintergrund bucht. Dein Kontakt mit der eigentlichen Website? Null. Du bekommst nur die Bestätigung.
Das verändert die Bedeutung einer Website radikal. Sie ist nicht mehr der Ort, wo der Kunde stöbert, sondern nur noch eine Datenquelle für Maschinen. Inhalte müssen so strukturiert sein, dass KI-Systeme sie lesen und nutzen können. Ob du eine schöne Startseite oder einen schicken Slider hast? Für den Menschen vielleicht, aber für die Maschine irrelevant.
Ein Blick nach Osten: WeChat als Vorläufer
Wenn du fragst, ob dieses Szenario überhaupt realistisch ist, schau nach China. WeChat existiert dort längst als Ökosystem, in dem Mini-Programme jede Art von Interaktion ermöglichen – Restaurantbestellungen, Ticketkauf, Banking. Über 900 Millionen Menschen bewegen sich komplett innerhalb dieser „geschlossenen Gärten“. Die eigentlichen Websites der Unternehmen? Oft leere Hüllen, wenn sie überhaupt existieren. Stattdessen ist alles direkt im Agentenfluss eingebaut. Das ist kein Zukunftsbild, sondern Gegenwart.
Und, Hand aufs Herz: Wenn eine App dir alles an einem Ort anbietet – von Pizza-Bestellung bis Versicherungsvertrag –, warum solltest du noch externe Seiten aufrufen? Genau: Machst du nicht. Dieser Komfort setzt sich durch, zunächst langsam, dann explosionsartig.
Das Déjà-vu: Von AOL bis Heute
Mir persönlich kommt das Ganze vor wie ein Déjà-vu. Erinnerst du dich noch an AOL in den 90ern? Das war „das Internet“, wenn du eingewählt warst. Eigentlich war da draußen eine riesige freie Welt, aber Millionen Nutzer saßen in geschlossenen Räumen und gaben statt URLs ihre Keywords ein. Die Ironie ist: Genau das wiederholt sich – nur diesmal in moderner Form mit LLMs wie ChatGPT oder CoPilot. Die Eingabe ist dein Intent, dein Wunsch; der Agent erledigt den Rest.
Der Unterschied? Die Geschwindigkeit, mit der sich diesmal alles verschiebt. Ein AOL-Zugang mit quietschendem Modem war mühsam. Ein KI-Agent auf deinem Handy ist sofort verfügbar – und viel effizienter. Das Risiko bleibt aber dasselbe: Abhängigkeit von geschlossenen Systemen, weniger Kontrolle für Marken, weniger Wahlmöglichkeiten für Konsumenten.
Der schleichende Niedergang der offenen Webstrukturen
Erschreckend ist, dass die offenen Strukturen des Webs schon jetzt schwächeln. Google selbst räumte ein, dass die offene Web-Landschaft rapide verfällt. Ein Teil dieses Rückgangs kommt daher, dass immer mehr User auf vorgeschaltete Antworten klicken, aber nicht mehr auf Links. Eine Pew Research-Studie zeigte, dass Menschen nur noch halb so oft Websites besuchen, wenn ein KI-Summary direkt in den Suchergebnissen angezeigt wird. Klicks brechen weg – und mit ihnen die Einnahmen der Publisher.
Was heißt das für dich? Reichweite, die du dir über Jahre mühsam aufgebaut hast, kann binnen Monaten wegbrechen. Nicht, weil deine Inhalte schlechter sind, sondern weil Konsumenten sie nicht mehr sehen müssen. Der Agent hat entschieden, dass ein Satz ausreicht.
Die Rolle von Content wird neu verhandelt
Heißt das, Content ist tot? Ganz im Gegenteil. Aber du musst ihn neu denken. Strukturierte Daten, Schema Markup, präzise Produktinformationen, Kundenbewertungen und gut gepflegte Fakten werden wichtiger als glänzende Storytelling-Landingpages. Ein Agent will nicht inspiriert werden, er braucht verlässliche, leicht interpretierbare Signale. Video-Content bekommst du vielleicht trotzdem angezeigt – aber als 30-Sekunden-Clip, zusammengefasst von einem System. Dein üppiger Design-Case auf der Unternehmensseite? Könnte überflüssig werden.
In meiner Beratungspraxis sehe ich genau diese Fragen: Investieren wir noch in eine neue Corporate Website oder stecken wir unser Budget besser in Datenfeeds, API-Anschlüsse und Agenten-Optimierung? Die Antworten sind verschieden – doch der Trend ist klar.
Marken zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
Ein Risiko liegt darin, dass sich die Marke auflöst. Wenn der Agent dir Sportschuhe bringt, ohne dass du je im Nike-Shop warst, woher rührt dann deine Bindung? Die Loyalität geht womöglich an den Assistenten selbst. Genau wie Amazon viele Händler austauschbar machte, drohen Agenten die Markenidentität flachzuwalzen. Um das zu vermeiden, solltest du überlegen, wie deine Signale so einzigartig und unverwechselbar werden, dass Systeme dich bevorzugt auswählen.
Neue Strategien: Vom SEO zum AIO (Agentic Information Optimization)
SEO, wie du es kennst, wird nicht verschwinden, aber es verändert sich. Statt um Serp-Rankings geht es um Retrievability: Wirst du von LLMs korrekt zitiert? Erkennen Agenten dich als verlässliche Quelle? Bist du in die relevanten API-Ökosysteme eingebunden? Kurz gesagt: Optimier nicht mehr nur für Menschen, sondern für Maschinen, die für Menschen handeln. Einige sprechen hier schon von AIO – Agentic Information Optimization.
Die Datenlücke: Analytics wird blinder
Ein Punkt, den viele völlig unterschätzen, ist das Messen. Bisher weißt du: So viele Webseitenbesucher, so viele Klicks, Conversion XY. In einer Agent-Ökonomie verschwindet dieser Datenstrom. Die Buchung ist da – aber von welchem Einstieg? Von woher kam der Kunde? Du siehst es nicht. Der Übergang zwingt zur Entwicklung neuer Metriken: Wurde dein Content genutzt? Wurde er im Agentenantworten eingebaut? Warst du die Quelle im Hintergrund?
Aus meiner Sicht könnte hier ein komplett neuer Analytics-Sektor entstehen. Weg vom Seitenaufruf, hin zu System-Citations und Agent-Retrieval-Scores. Ohne diese neuen Werkzeuge stochern viele Marketer bald im Nebel.
Ausblick: Angst und Hoffnung zugleich
Einerseits ist die Angst verständlich. Wir kennen die Geschichte: Gated Communities wie AOL haben Wachstum gebremst und Vielfalt reduziert. Keiner sehnt sich nach neuen Mauern. Andererseits eröffnet sich für Vorreiter eine Riesenchance: Wer seine Inhalte, Daten und Strukturen frühzeitig agentengerecht gestaltet, kann Standardquelle in Millionen von Anfragen werden. Die Website als „Plumbing“ – also die Rohre, die Informationen tragen – ist nichts Glamouröses, aber unersetzbar.
Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob Webseiten sterben. Sie bleiben bestehen – aber ihre Rolle wandelt sich. Entscheidender ist: Welche Prioritäten setzt du? Stehst du noch vor deiner virtuellen Haustür und polierst die Fassade? Oder arbeitest du im Keller an sauberen Leitungen, die die Agenten brauchen, um deine Inhalte zuverlässig weiterzugeben?
Fazit
Für dich bedeutet das: Umdenken. Statt allein auf Design, Traffic und Rankings zu schauen, solltest du künftig auf Datenfeeds, maschinenlesbare Signale, strukturierte Inhalte und Vertrauen in Agentensysteme setzen. Vergleiche es mit Wasserleitungen: Kein Mensch feiert den Anblick der Rohre. Aber wenn das Wasser nicht fließt, kannst du deine Küche noch so hübsch dekorieren – sie bleibt nutzlos.
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