Manchmal überschlagen sich die Entwicklungen, und die Grenzen zwischen klassischer Suche, KI und Nutzererfahrung werden unscharf.
Genau das spürst du derzeit im SEO- und KI-Umfeld: ChatGPT übernimmt Shopping-Funktionen, Studien legen offen, warum und wann KI-Systeme Websites zitieren, und Google-Vertreter beruhigen Websitebetreibende bei Performance-Fragen. Das ist kein Zufall – es passiert parallel und verändert, wie Marken im Netz entdeckt und bewertet werden.
ChatGPT wird Einkaufsberater
Seit Ende November ist eine neue Funktion ausgerollt: Shopping-Recherche direkt in ChatGPT. Kostenlos oder bezahlt – alle, die ein Konto haben, können sie nutzen.
Der Ablauf ist erstaunlich menschlich: Du sagst etwa „Ich suche ein leichtes Citybike“, beantwortest ein paar Rückfragen zu Budget, Nutzung oder Design, und wenige Minuten später erstellt ChatGPT eine personalisierte Kaufempfehlung.
Das Ganze ist auf Basis von GPT‑5 mini gebaut. OpenAI hat zunächst fast keine Grenzen beim Nutzen gesetzt, was über die Feiertagsanfragen hinausreichen dürfte. Händler, die auftauchen wollen, müssen aktiv eine Aufnahmebeantragung stellen – spontane Indexierung wie bei Google gibt es nicht.
Was das für dich bedeutet
Im Grunde wandert ein ganzer Abschnitt der Customer Journey nach innen, in den Chat. Früher klickten Nutzer von Kategoriepfeil zu Kategoriepfeil, verglichen auf Preisportalen, lasen Reviews. Jetzt passiert vieles dieser Schritte innerhalb von ChatGPT – bevor jemand überhaupt auf deine Seite kommt.
Das ändert Spielregeln. Crystal Carter von Wix fasste es treffend zusammen: Marken müssen ihre Werte, Communities und Vorlieben sichtbarer kommunizieren – auf ihren eigenen Websites und über glaubwürdige Referenzen. Nur so kann ein Modell erkennen, wofür du stehst, und dich dort empfehlen, wo es zählt.
Und erste Tests zeigen: ChatGPT gibt inzwischen unterschiedliche Empfehlungen je nach Interesse und Profil eines Nutzers aus – etwa bei Restaurants oder Reiseanbietern. Das heißt: Personalisierung zieht ein in die KI-gestützte Suche, nicht nur in Social Ads oder Newsletter-Marketing.
Meine Beobachtung
Viele Händler denken noch in Keyword-Clustern („wir müssen für ‘beste Laufschuhe 2026’ ranken“). In Wahrheit wird relevant, wie die eigenen Daten in Modelle eingespeist werden. Informationen, FAQs, Produktvergleiche – alles das fließt in diese neuen Recommender ein. Wenn du dort fehlen willst, genügt SEO im alten Sinn nicht mehr.
Die Datenlage: Welche Websites ChatGPT wirklich zitiert
Eine groß angelegte Untersuchung von SE Ranking hat in Zahlen bestätigt, was viele spüren: Autorität schlägt fast alles.
Über 216 000 Seiten aus 20 Branchen wurden analysiert. Ergebnis: je mehr hochwertige Backlinks eine Domain hat, desto häufiger taucht sie als Quelle in ChatGPT‑Antworten auf.
Beispielhafte Schwellenwerte aus der Studie:
– Mit bis zu 2 500 verweisenden Domains erhält eine Website durchschnittlich 1,6 Zitate.
– Ab 350 000 Domains springt der Wert auf 8 Zitate.
– Auch der Traffic zählt, aber nur ab etwa 190 000 monatlichen Visits. Darunter: kaum Effekt.
– Und längere Artikel – etwa ab 2 900 Wörtern – schneiden signifikant besser ab.
Heißt übersetzt: Solange du in der „Midrange“ dümpelst, ändert sich wenig. Doch wenn du die kritischen Schwellen knackst, vervielfacht sich dein Auftreten in KI-Ergebnissen drastisch.
Ein paar Gedanken dazu
In klassischem SEO zählt oft das Prinzip der vielen kleinen Schritte – Content refreshen, Titles optimieren, CTR heben. Für ChatGPTs Zitationslogik scheinen diese Feinheiten zweitrangig. Das System reagiert sprunghaft: unterhalb gewisser Grenzwerte wirst du kaum wahrgenommen, darüber bist du „drin“.
Das verlangt ein Umdenken: lieber wenige Inhalte mit echter Durchschlagskraft als Massenware, die unter der Wahrnehmungsschwelle bleibt.
Interessant fand ich auch die Erkenntnis, dass .gov oder .edu-Domains keinen automatischen Bonus genießen. Relevanz und Tiefgang zählen mehr als Endungen oder Tradition. Auch Foren wie Quora oder Reddit tauchen erstaunlich häufig in den Referenzen auf – schlicht, weil dort aktuelle, dialogische Inhalte entstehen, die KI‑Modelle „menschlich“ finden.
Was das praktisch heißt
Wenn du Sichtbarkeit in KI erzeugen willst, brauchst du:
– starke, glaubwürdige Erwähnungen (Earned Media statt nur eigener Blog);
– Inhalte, die Daten oder Vergleiche bieten – KI „liebt“ messbare Fakten;
– und langfristigen Ausbau der Domainautorität, nicht nur einzelne virale Peaks.
Mit anderen Worten: das alte Handwerk von SEO lebt weiter – aber mit höherem Einsatz.
Gelassenheit beim Thema Ladezeiten
Etwas beruhigend zwischendurch: John Mueller von Google hat klargestellt, dass große Hintergrundvideos an sich keine SEO-Gefahr darstellen, solange sichtbare Inhalte zuerst erscheinen.
Ein Nutzer hatte gefragt, ob ein 100 MB‑Video im Hintergrund seine Rankings schädigen könne. Antwort: „Unwahrscheinlich.“
Wichtig ist der technische Satz: preload="none". Damit lädt der Browser kein Datenvolumen, bevor es Sinn ergibt. Core Web Vitals – also LCP und CLS – sollten natürlich im grünen Bereich bleiben, aber Google bewertet den sichtbaren Teil zuerst.
Wenn dein Text und deine Navigation fix erscheinen, ist es der Suchmaschine egal, ob das Hintergrundvideo noch lädt.
Ich erinnere mich an Projekte, bei denen Designer unbedingt bewegte Startseiten wollten. Früher rieten wir reflexartig ab, aus Angst vor PageSpeed‑Punkten. Heute würde ich sagen: prüfe das Erlebnis, nicht nur den Score. Wenn es deine Marke visuell trägt und technisch sauber asynchron läuft, nimm es mit. Suchmaschinen lieben funktionierende Seiten, nicht karge.
Das unterschwellige Thema: Discovery findet früher statt
Setzt man die drei Entwicklungen nebeneinander, erkennt man ein Muster:
Das Entscheidende – ob ein Nutzer dein Produkt findet, ob KI dich nennt, ob Google dich als performant einstuft – passiert immer früher im Prozess.
ChatGPTs Shopping-Feature greift, bevor jemand die Suchleiste öffnet.
AI‑Zitate entscheiden sich, bevor du TopRankings erreichst.
Und technisches Vertrauen (Pagespeed, sauberes Markup, Nutzersignale) baust du auf, bevor es jemand merkt.
So verschiebt sich SEO vom Reagieren auf Suchanfragen hin zum Vorfeld des Suchens.
Was du daraus mitnehmen solltest
1. Gestalte Inhalte für Menschen – aber in maschinenlesbarer Tiefe.
KIs ziehen Fakten, Namen, Entitäten. Strukturierte Daten helfen, aber wichtiger ist inhaltliche Klarheit.
2. Pflege deine digitale Autorität. Backlinks sind nicht tot, sie sind wieder das Fundament.
3. Beobachte, wo sich dein Publikum informiert. Vielleicht bist du künftig eher in einer Chat‑Empfehlung sichtbar als in den SERPs.
Ein persönliches Fazit
Auch wenn viele diese Zeit als unübersichtlich empfinden, ist sie spannend. Wir sehen, wie SEO sich ausbreitet: weg von zehn blauen Links hin zu Ökosystemen aus Daten, Markenstimme und Vertrauen. Wer das begreift, kann sich positionieren, lange bevor der Mitbewerb merkt, dass das Spiel begonnen hat.
Zum Schluss
Ob ChatGPT dein neuer Produktberater wird, ob dein Content zitiert oder dein Video geladen wird – alles läuft auf dieselbe Frage hinaus:
Ist deine Marke dort präsent, wo Entscheidungen entstehen?
Wenn du das bejahen kannst, hast du SEO im Jahr 2026 schon verstanden – egal, ob du es so nennst oder nicht.














